Zur Eröffnung der Ausstellung

„Die Fortführer. Drei Generationen in Leipzig: Tübke – Kissing – Triegel“

in der Kunstgalerie „Joost van Mar“

am 21. April 2018 in Warnemünde 

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Vor 45 Jahren bekam ich von der Kunsterzieherin und Malerin Marita Hohmann, wie sie damals hieß bevor sie ihren Lehrer Günter Albert Schulz heiratete, dieses schmale Bändchen geschenkt: „Der Kreuzweg“, Texte von Hans Urs von Balthasar zu Zeichnungen von Josef Hegenbarth. In ihrer Expressivität trafen diese Kohlezeichnungen mich wie Keulenschläge und zwangen mich geradezu, diesen Kreuzweg nachzugehen, ihn nachzuerleben.

Dann kam Krzysztof Penderecki nach Leipzig, um mit dem Rundfunkchor und dem Rundfunksinfonieorchester seine Lukas-Passion aufzuführen. Da erlebte ich, wie der Schrei der Verzweiflung: „deus meus! deus meus!“, dieses immer von neuem anrennende Gebet ohne Hoffnung, das kulturverwöhnte Leipziger Publikum ins Herz traf. Ich schaute mich um und erkannte eingefleischte Atheisten, für die Bach’s Passionsmusiken zum Standardkulturprogramm gehörten, und sah sie weinen!

Etwas später sah ich Elisabeth Voigt’s Jeremia-Zyklus in der Otto-Schill-Straße. Dynamische und ausdrucksstarke Farbzeichnungen zu Motiven des Jeremia-Buches. Da war es besonders das Bild des Propheten, wie er das Joch trägt zum Zeichen für das drohende Schicksal des Volkes. So, wie Elisabeth Voigt das gezeichnet hat, ist es eine Vorausschau des Kreuzes. Man kann die Kreuzigung darin schon sehen, ja spüren. Da schürzt sich der Knoten der Geschichte, alle Gewalt und aller Machtterror tobt sich dort aus.

 

Alexander, warst Du Dir eigentlich dessen bewusst, was Du damit anrichtest, als Du diesen Gekreuzigten hier aufstelltest?

Das ist kein harmloses Kruzifix, wie es in bayrischen Amtsstuben hängt, keine Altarzier und kein religiöses Symbol, sondern das Ende aller Religion, ihr absoluter Nullpunkt.

Der die Zuwendung Gottes repräsentieren soll, die Nähe Gottes gerade zu Verlassenen und Niedergeschlagenen, der hängt hier und schreit seine äußerste Verzweiflung heraus:

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

„O große Not, Gott selbst ist tot“, so hat die Theologin Dorothee Sölle ein altes Passionslied nachgesungen.

„Lasst alle Hoffnung fahren“, so könnte man hier darüberschreiben. Adorno’s Verdikt über die Unmöglichkeit von Poesie nach Auschwitz müsste ja ebenso für die Malerei gelten. Aber gerade der vielleicht poetischste Maler des 20. Jahrhunderts, der Jude Marc Chagall, zeigt sich davon unbeeindruckt. Er bildet Auschwitz auch nicht ab. Er malt den gekreuzigten Jesus,  d e n  Juden.

 

 

 

 

Wenn wir diese Galerie betreten, kommen wir hieran nicht vorbei. Wir müssen diesen Nullpunkt passieren. Alles, was wir hier sehen, steht bzw. hängt nun unter diesem Zeichen.

Aber dann sollten wir uns auch nicht daran vorbeidrücken, etwa ein zwei Blicke darauf werfen, um uns dann dem anderen zuzuwenden. Wir sollten hier stehen bleiben, wirklich und wahrhaftig standhalten, und diesen Gekreuzigten genau in Auge fassen. Wie wäre es mit einer Übung, ähnlich der aus der ZEN-Meditation, die ich „Stille Flamme“ nenne? Da setze ich mich vor ein brennendes Licht , Kerze oder Öllampe, und konzentriere mich ganz auf die Flamme, bis ich mich ganz mit ihr identifiziere: Ich im Licht, das Licht in mir – ich bin das Licht. Wenn ich die Flamme jetzt auslösche, wo bin ich dann?

So stelle ich mich jetzt hier diesem Gekreuzigten, schaue ihn an, betrachte ihn von allen Seiten und gehe dabei auch mal in die Kniee. Ich konzentriere mich auf ihn, bis ich mich mit ihm identifiziere, bis ich gleichsam seinen Tod sterbe.

Wo bin ich dann? All meine Umtriebigkeiten, meine Voreingenommenheiten und Voreinstellungen lege ich ab. Es wird leer in mir und ich bin in der Leere.

Zum Gekreuzigten gehört logischerweise das leere Grab. Das ist die andere Seite. Dann kommt alles darauf an: entweder die Leere ist endgültig oder mir widerfährt etwas. Seit Jahrhunderten zerbrechen sich die Theologen den Kopf über das Widerfahrnis, dass sie Ostern nennen.

Jetzt, nach dieser Begegnung mit dem Gekreuzigten, dass mich in die Leere geführt hat, bin ich bereit für ein Widerfahrnis.

 

Die eine oder der andere von Ihnen erinnert sich wohl an die Mattheuer-Ausstellung hier im vorigen Jahr. Und an jenen Linolstich, bei dem wir im gestürzten Ikarus ein Bild des Gekreuzigten erkannt haben. Damals erwähnte ich, dass Elisabeth Voigt Mattheuers Lehrerin war. Sie, selbst Meisterschülerin von Käthe Kollwitz, war  d i e  Zeichenlehrerin der Grafik-Hochschule und der Karl-Marx-Uni. Das war sie denn auch für Werner Tübke, als er 1948/49 an der Grafik-Hochschule studierte und bevor er 1950 nach Greifswald ging. Doch wo ihr Zeichenstrich uns von ihrer Emotionalität und Ausdruckskraft aufgeladen entgegenspringt, erscheint seine Zeichnung zurückhaltend und kühl.

 

Nachdem Werner Tübke 1996 sein letztes großes Werk vollendet hat, den großen Flügelaltar für St.Salvatoris in Clausthal-Zellerfeld, nimmt er sich zurück und reduziert sich gleichsam auf den, der er ja schon immer gewesen ist: den Beobachter.

Beobachten und: Zeichnen, zeichnen, zeichnen! So hat er es einst, 1954, in seinem kunsterzieherischen Handbuch allen zur künstlerischen Ausbildung empfohlen. Vielleicht findet sich ja mal ein Verlag, der dieses Handbuch neu herausgibt, damit man es allen in die Hand drücken kann, die sich künstlerisch ausbilden wollen? Damit diese grundlegende Kulturtechnik, zeichnen, ganz neu wertgeschätzt und gelernt wird.

 

 

 

So sehen wir nun Werner Tübke, von schwerer Krankheit gezeichnet, am Ende seines Lebens, 2003, hier in Warnemünde am Alten Strom stehen und schauen. Wie lange hat wohl er so geschaut und dieses Bild in sich aufgenommen? Und dann nimmt er das Blatt, legt mit vier Strichen den Rahmen fest: zuerst die obere Waagerechte, dann die beiden Senkrechten und schließlich die den Bildausschnitt gültig begrenzende untere Waagerechte. Und zeichnet dieses sein verinnerlichtes Bild von Warnemünde aufs Papier. Möglicherweise hat er da nicht mehr auch nur ein einziges Mal aufgeschaut und wie automatisch dieses Bild in einer unnachahmlich gleichmäßigen Sanftheit aufs Papier gebracht.

Vielleicht kommt jetzt ein Warnemünder, schaut sich dieses Bild an und fragt: Was soll da sein? Welche Stelle? Aber der Künstler hat hier nichts abgezeichnet, nichts abgeguckt und abgebildet. Es ist sein inneres, verinnerlichtes Bild, das sein Stift zu Papier bringt. Und ich schaue mir das an, nicht um zu vergleichen: Ist das, was ich sehe, vom Zeichner getroffen? Ist es deckungsgleich mit dem Bild, das ich vor Augen habe? Sondern ich begegne dieser Zeichnung als einer eigenen Wirklichkeit. Ich folge den Linien und erfahre ihre Sphäre, ihre Stimmung. Die Zeichnung wird mir zum Widerfahrnis.

 

In dem zweiten Katalogband der Galerie Schwind zu Tübkes Zeichnungen können Sie nachlesen, was sein Schüler Ulrich Hachulla mal aus der Schule geplaudert hat. Da war einem der Schüler ins Auge gefallen, wie das Modell den natürlichen Augenbrauenbogen mit ihrem Schminkstift zu korrigieren suchte und hatte sich ganz darauf konzentriert. Er hatte die Zeichnung, wie der Meister missbilligend monierte, „verbosselt“. Galt es doch, genau hinzuschauen und sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, sondern das Bild in sich aufzunehmen und zu zeichnen. Beim Zeichnen entsteht die Form. Nicht der Kopf, der Zeichenstift findet die Form.

 

Werner Tübkes Landschaften sind alle aus der Beobachtung gezeichnet, ohne den starken Zugriff eines eigensinnigen Machers.

Hier in der Ausstellung sehen wir noch den „Platz am Meer“ von 1999, man könnte das für die Kulissen einer Opernaufführung halten, vielleicht auf dem Markusplatz von Venedig. Denn aus der Haltung des Beobachtens erwächst auch der Eindruck einer Inszenierung, als provoziere diese Haltung das beobachtete „Objekt“ dazu, sich darzustellen.

Und in der Kreidelithografie von 1989 scheint es der Sinai selbst, der sich so machtvoll darstellt. Die sich auftürmenden Felsen, die noch den Kumulus der Wolken übertreffen, zu Füßen das Katharinenkloster, winzig wie eine Spielzeugburg. Und hinter den Felsen, was sie allerdings als Kulisse erscheinen lässt: der weite Meereshorizont.

 

Diese Haltung meine ich bei Erich Kissing wiederzufinden, wenn ich mir hier seine Zeichnungen von 1980, „Ostseeküste“, Bleistift, Kohle und Aquarell, anschaue.

 

 

Ich fühle mich zurückversetzt ins zeitige Frühjahr 2005, als der Fotograf Volkmar Herre uns, Carine und mich, zu einer Wanderung an der Kreideküste vom Jasmund eingeladen hatte. Wir hörten es allenthalben Rascheln und Knistern, und einige Tage danach wurden die Abbrüche gemeldet, denen auch der Wissower Klinken zum Opfer gefallen war. Derlei Abbrüche sind eben keine „Unfälle“, die der von den Touristen so geliebten Landschaft widerfahren, sie gehören zum Wesen dieser Landschaft und machen ihren Charakter aus. Und so hat sich dieser Charakter, diese Spannung zwischen Stille und Abbruch, hier durch die Hand des Künstlers abgebildet.

Wohlgemerkt: Hier ist nichts abgemalt und nichts ausgedacht! Es ist die Landschaft selbst, die sich so darstellt.

 

Wie aber begegnet der Künstler dem menschlichen Modell? Tübke sehe ich auch hier als Beobachter. Der Körper des Modells selbst setzt sich in Szene. Naja, was mag der Künstler so manchem Modell abverlangt haben, damit er seiner ansichtig werden kann?!

Und seltsam: Tübke findet ein Modell, betrachtet es, schaut es sich genau an, nimmt sein Bild in sich auf, und während er es zeichnet, entdeckt er Haltungen und Situationen, in die diese von ihm gezeichnete Figur hineinwächst. Manchmal sind es Kostümierungen. Manchmal ganze Rollenbilder. 

Diese Studie einer jungen Frau, eine Bleistiftzeichnung von 1967, wächst in Positur und Rolle der Beweinenden einer Kreuzigungsgruppe hinein. Und bildet damit wiederum alsbald ein Motiv für die Mahnung im Zyklus „Lebenserinnerungen des Dr.jur.Schulze“.

Wir schauen uns diese Bleistiftzeichnung an. Das ist doch mehr als irgendeine Studie. Hier bildet sich uns eine junge Frau ab, als suche sie nach einer Lebenshaltung. Und achten Sie auf den Fuß, der unter ihrer Kostümierung hervorlugt!

 

Einen eigenartigen Kontrast hat Alexander dadurch geschaffen, das er hier gegenüber diese Zinklithografie von Michael Triegel gehängt hat, „Ave Maria“ 2016. Ist das nicht eine dieser vielen römischen Skulpturen von einem der Berninis, oder wie sie heißen mögen? Vorsicht: erst anschauen, lange hinschauen und aushalten, was da mehr und mehr auf mich eindrängt. Auch diese Farbe, diese Temperatur, gleichsam gefrorenes Blut. Und übersehen wir nicht den Fuß, der auch hier unter der Kostümierung hervorlugt. Darunter finden wir einen Haufen Gruselbilder, die für „Hölle, Tod und Teufel“ stehen. Und ein Monster, so angefressen es ist, bäumt sich bissig auf, einem Köter gleich, den man schnell loswerden möchte. Mit derartigen Bildsymbolen wird in vielen Marienbildern auf die biblische Drohung gegen die Schlange der Sündenfallgeschichte angespielt, der Same der Frau werde ihr den Kopf zertreten und sie werde ihn in die Ferse stechen. In der marianischen Ikonographie wird Maria als Gegentypos der Eva gesehen. Hier repräsentiert also der angefressene Köter den Gegenangriff des Bösen …

 

 

 

Allmählich sollte uns hier bewusst werden, dass allen diese Arbeiten ein untergründiges Thema eigen ist: memento mori: Gedenke, das wir sterblich sind! Das muss uns gar nicht drastisch vor Augen geführt werden wie in jener Kombination von Vernis mou und Aquatinta von Michael Triegel, „Karneval“ 1995 – wieder diese kalten Farben, diesmal blassrot und türkis. Wir müssen nur vor irgendeiner dieser Arbeiten lange genug verharren, bis wir dessen innewerden, dass es um alles geht.

 

Jener „Engelskopf“ etwa, in dem ich ein Selbstporträt des blutjungen Michael Triegel zu erkennen meine und zugleich aus dem achten Psalm zu rezitieren versucht bin:

 

(5) Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? (6) Du hast ihn wenig geringer gemacht als Gott, mit Ehre und Hoheit hast du ihn gekrönt …

 

Es gab eine Zeit, da konzentrierte sich alle Anthropologie auf Schädelvermessung. Führt uns Michael Triegel hier die Vermessung eines Engelschädels vor? Wenn denn ein Engel überhaupt so etwas wie einen Schädel haben sollte … Wie nebenbei erinnert uns Triegel an eine in der DDR-Ideologie von der Renaissance-Kunst entliehene und immer wieder traktierte Losung: „Der Mensch – das Maß aller Dinge“. Aber gerade diese Kombination einer vermeintlichen Konstruktionszeichnung mit dem Engelsgesicht bringt Begrenztheit, Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit ins Spiel. Und daraus wiederum erwächst die Schönheit dieses Bildes.

 

Gern hätte ich noch einiges zu Fritz Cremer’s Arbeiten angemerkt, diesen beiden Bronzen, „Kleiner Torso“ 1939 und „Liegendes Liebespaar“ 1976. Denn auch sein Schaffen ist durchzogen von der beständigen Auseinandersetzung mit dem Bild des Gekreuzigten. Aber da hoffe ich nun auf eine vielleicht spätere Ausstellung mit Zeichnungen und Plastiken Fritz Cremer’s. Denn ich denke ja, dass das Werk dieses Künstlers eine Neuentdeckung verdient hätte.

 

Am Ende unseres Rundganges stehen wir wieder vor dem Gekreuzigten und schauen in sein von Verzweiflung gequältes Gesicht. Ist uns in den hier ausgestellten Arbeiten etwas begegnet, dass aus der Leere herausführt? Ein Widerfahrnis?

Denn darin bin ich mit den Meistern der Leipziger Schule durchaus einig: die besondere Qualität eines Kunstwerks zeigt sich darin, dass es etwas mit mir macht.

 

Ende der 60er Jahre erhielt das Werk Rilke’s an den Künstlerstammtischen im Leipziger Corso-Café neue Aufmerksamkeit, etwa sein Gedicht „Archaischer Torso Apolls“. Da lässt uns Rainer Maria Rilke teilhaben an seiner Erfahrung jener Figur und treibt das so weit, dass wir Betrachter zu Beobachteten werden:

 

„… denn da ist keine Stelle,

die dich nicht sieht …“

 

Und dann kommt dieser abschließende und folgenschwere Satz:

„… Du musst dein Leben ändern.“

 

Und noch ein Dichter hat uns damals in die Hirne und Herzen gesprochen: Jewgenij Jewtuschenko, der sich schon damals der eiligen Oberflächlichkeit in den Weg stellte und uns anrief:

 

„Halt ein, bleib doch stehen,

du hast Gott vergessen

und schreitest ja

über dich selber hinweg!“

 

Aller guten Dinge sind drei. Und so zitiere ich hier noch einen dritten Dichter, der uns aus dem allgemeinen Trott herausruft, Günter Eich. Aus dem abschließenden Weckruf seines Hörspiels „Träume“ seien hier, unter dem Kreuz, seine Zeilen zitiert:

 

Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht!

Bleib wach, weil das Entsetzliche näher kommt.

Auch zu dir kommt es, der weit entfernt wohnt von den Stätten, wo Blut vergossen wird,

auch zu dir und deinem Nachmittagsschlaf,

worin du ungern gestört wirst.

Wenn es heute nicht kommt, kommt es morgen,

aber sei gewiss …

 

Ah, du schläfst schon? Wache gut auf, mein Freund!

Schon läuft der Strom in den Umzäunungen, und die Posten sind aufgestellt.

Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!

Seid misstrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen!

Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!

Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!

Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!

 

 

Peter Michael Pietsch

Lüdershagen am 20. April 2018